Leitartikel im Vorwärts zum Problem der Arbeiterregierung

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24. März 1920

Entwirrung. In der Nacht vom Dienstag, dem 16., zum Mittwoch, dem 17, März, erließ der Bezirksvorstand der Groß-Berliner Sozialdemokratie einen Aufruf, in dem die Umbildung der Regierung gefordert wurde. Wer drohende Gefahren nicht rechtzeitig erkannt, ihnen nicht vorgebeugt, sich in kritischen Tagen nicht vollkommen zuverlässig gezeigt habe, müsse seinen Posten verlassen. Aufgabe der neuen Regierung werde es sein, den Kampf gegen die Reaktion sofort mit voller Schärfe aufzunehmen und so rasch wie möglich unter der Parole gegen rechts Neuwahlen durchzuführen. An einer solchen Regierung sich zu beteiligen, sei Pflicht beider sozialdemokratischer Parteien.

Am Freitag begannen dann die Verhandlungen zwischen den im Streik stehenden Berufsorganisationen, deren Standpunkt von den Vertretern der Sozialdemokratie geteilt wurde. Am Sonnabendmorgen kam dann zwischen den Organisationen und den Vertretern der Mehrheitsparteien folgende Vereinbarung zustande:

  1. Die anwesenden Vertreter der Regierungsparteien werden bei ihren Fraktionen dafür eintreten, daß bei der bevorstehenden Neubildung der Regierungen im Reich und in Preußen die Personenfrage von den Parteien nach Verständigung mit den am Generalstreik beteiligten gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten gelöst und daß diesen Organisationen ein entscheidender Einfluß auf die Neuregelung der wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze eingeräumt wird, unter Wahrung der Rechte der Volksvertretung.
  2. Sofortige Entwaffnung und Bestrafung aller am Putsch oder am Sturz der verfassungsmäßigen Regierungen Schuldigen sowie der Beamten, die sich ungesetzlichen Regierungen zur Verfügung gestellt haben.
  3. Gründliche Reinigung der gesamten öffentlichen Verwaltungen und Betriebsverwaltungen von gegenrevolutionären Persönlichkeiten, besonders solchen in leitenden Stellen, und ihren Ersatz durch zuverlässige Kräfte. Wiedereinstellung aller in öffentlichen Diensten aus politischen und gewerkschaftlichen Gründen gemaßregelten Organisationsvertreter.
  4. Schnellste Durchführung der Verwaltungsreform auf demokratischer Grundlage unter Mitbestimmung auch der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten.
  5. Sofortiger Ausbau der bestehenden und Schaffung neuer Sozialgesetze, die den Arbeitern, Angestellten und Beamten volle soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung gewährleisten. Schleunige Einführung eines freiheitlichen Beamtenrechts.
  6. Sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftszweige unter Zugrundelegung der Beschlüsse der Sozialisierungskommission, zu der Vertreter der Berufsverbände hinzuzuziehen sind. Die Einberufung der Sozialisierungskommission erfolgt sofort. Übernahme des Kohlen- und des Kalisyndikats durch das Reich.
  7. Auflösung aller der Verfassung nicht treu geblichenen konterrevolutionären militärischen Formationen und ihre Ersetzung durch Formationen aus den Kreisen der zuverlässigen republikanischen Bevölkerung, insbesondere der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten, ohne Zurücksetzung irgendeines Standes. Bei dieser Reorganisation bleiben erworbene Rechtsansprüche treu gebliebener Truppen und Sicherheitswehren unangetastet.
  8. Wirksame Erfassung, gegebenenfalls Enteignung der verfügbaren Lebensmittel und verstärkte Bekämpfung des Wuchers und Schiebertums in Land und Stadt. Sicherung der Erfüllung der Ablieferungsverpfliditung durch Gründung von Lieferungsverbänden und Verhängung fühlbarer Strafen bei böswilliger Verletzung der Verpflichtung.

Von einer neunten Forderung, die den Rücktritt des Reichswehrministers Noske und des Ministers des Innern Heine betraf, wurde Abstand genommen, weil deren Rücktritt bereits vollzogen war. Die sozialdemokratische Fraktion der Nationalversammlung hat sich die Berliner Vereinbarungen zu eigen gemacht. Sie und die ganze Partei werden fest zu ihnen stehen. Mit ihnen ist auch unsere Parole für die Wahlen gegeben, die, wie es jetzt heißt, im Juni vollzogen werden sollen.

Die Entwirrung der Situation und die Umbildung der Regierung begegnen naturgemäß den größten Schwierigkeiten. Der Reichspräsident, Genosse Ebert , steht vor der unendlich schweren Auf-gabe, eine Regierung zu ernennen, die in der Nationalversammlung eine Mehrheit findet und die notwendigen Garantien für die Linke bietet. Hoffentlich begreifen die bürgerlichen Parteien, daß die Lage rasches Handeln erfordert und daß die Antwort auf die freche Herausforderung der militaristischen Reaktion nur eine entschiedene Linksschwenkung der gesamten Regierungspolitik sein kann.

Nur diese Erkenntnis ist imstande, das gefährdete Reich und unser unglückliches Volk vor neuen schweren Erschütterungen zu bewahren. Es wird über die Bildung einer Arbeiterregierung verhandelt, die aus Sozialdemokraten, Unabhängigen und Ge-werkschaftlern, aus dem Zentrum und der bürgerlichen Demokratie bestehen soll. Wir können uns — da die Zustimmung der bürgerlichen Koalitionsparteien zu einer rein sozialistischen Regierung kaum zu erwarten ist — keine glücklichere Lösung denken als diese.

In den sozialistischen Parteien genießen die Gewerkschaftsvertreter volles Vertrauen, und es gäbe zu denken, wenn das bei den bürgerlichen Parteien anders sein sollte. Die diesen Parteien angeschlossenen Berufsorganisationen wollen doch auch nicht bloß fünftes Rad am Wagen sein. Hinter einer Regierung der Arbeiter, das heißt der Kopf- und Landarbeiter und der Angestellten und Beamten, würde die erdrückende Mehrheit der gesamten werktätigen Bevölkerung stehen. Unter ihrer Führung würde es gelingen, die kommenden schweren Monate zu überwinden und die Wahlen unter der notwendigen Parole des Kampfes gegen rechts erfolgreich durchzuführen. Daß sich eine solche Regierung auf den Boden der Berliner Vereinbarungen stellen würde, ist selbstverständlich.

Wie sonst die Krise gelöst werden soll, ist vorläufig nicht zu sehen. Über eine rein bürgerliche Regierung braucht nicht erst geredet zu werden, sie ist angesichts der neuen Ereignisse mehr denn je eine Unmöglichkeit. Aber ebensowenig ist eine Fortsetzung der Koalitionspolitik möglich ohne einen entschiedenen Ruck des Ganzen nach links und ohne allseitige Anerkennung der Berliner Vereinbarungen, deren Boden die sozialdemokratische Partei nicht verlassen wird.

Einstweilen ist es notwendig, nach Beendigung des Generalstreiks auch die zwecklosen Schießereien auf den Straßen einzustellen. Auch der größte Esel müßte nun begreifen, daß aus allen Versuchen zu bewaffneten Aufständen nur noch die militaristische Reaktion Nahrung zieht. Sie will durch Großzüchtung des Bolschewistenschrecks ihre Notwendigkeit beweisen. Mißlingt ihr dieser letzte Rettungsversuch, dann bricht sie in sich zusammen. Darum sind alle lokalen Kämpfe, denen der Zusammenhang mit den großen politischen Ereignissen fehlt und die meist nur aus einem örtlichen und augenblicklichen Mißverstehen der Situation entstehen, unbedingt zu vermeiden.

In den Vorgängen der letzten Tage hat sich das Wort des Dichters bewährt, daß der Verlust ein Blitzstrahl ist, der verklärt, was er entzieht. In dem Augenblick, in dem Republik und Demokratie in der Gefahr standen vernichtet zu werden, brach sich in der ganzen arbeitenden Bevölkerung trotz aller Diskussionen mit elementarer Kraft die Erkenntnis Bahn, was Republik und Demokratie für sie bedeuten. Auf dem Boden der Republik und der Demokratie, auf dem Boden der Verfassung muß die Lösung der schweren Reichskrise gefunden werden. An ihr mitzuarbeiten sind alle Vertreter des arbeitenden Volkes verpflichtet, ohne Unterschied der Partei oder Richtung. Kann die sozialistische Arbeiterschaft aus den Erfahrungen lernen, so muß sie jetzt auf dem Boden der Republik und der Demokratie auch den Weg zur Einigkeit finden.“

Leitartikel des ,,Vorwärts“ vom 24. März 1920 mit einer Stellungnahme zur Regierungsumbildung und zum Problem der Arbeiterregierung Vorwärts, Nr. 152/154, 24. März 1920.- in Arbeitereinheit rettet die Republik (1970)