Revolutionslexikon: Die Rote Armee an Ruhr und Rhein

| 1930

Die Wirkung der bis 1927 erschienen Literatur zur Märzrevolution von 1920 wurde sozusagen vom Tisch gefegt durch ein mehrbändiges Werk, das zwischen 1928 und 1930 – zeitlich nach Severing und Meinberg und vor Brauer — erschien. In 4 Textbänden und einem Bildband schilderte Hans Spethmann die Geschichte des Ruhrbergbaus zwischen 1914 und 1925 (dem Jahr in dem die französische Besatzung das Ruhrgebiet wieder verließ)

Der Verfasser vermittelt die Aura von ,,Wissenschaftlichkeit“, die auf ,,objektiven“ Originalquellen beruht, und so haben die gutausgestatteten Bände in blauem Leinen den Weg in die Bibliotheken und Bücherschränke gefunden. Der zweite Band, der unser Thema, den Ruhraufstand, behandelt, fand besonderen Anklang, so daß Spethmann 1930 eine gekürzte ,,Volksausgabe“ herausgab (,,Die Rote Armee an Ruhr und Rhein“).

Was seine Verbreitung und Wirkung betritt, muß man das Werk Spethmanns als die ,,klassische“ Darstellung der Nachkriegszeit des Ruhrgebiets bezeichnen. Spethmann, 1885 in Lübeck geboren, war seit 1913 Privatdozent für Geographie und Wirtschaftskunde In Berlin , seit 1922 in Köln. Er hatte bereits eine ansehnliche Liste von Veröffentlichungen vorzuweisen, als er 1925 durch sein Buch ,,Die Großwirtschaft an der Ruhr“ den Bergbau-Verein in Essen, die Dachorganisation der Zechenunternehmer, auf sich aufmerksam machte. Der Bergbau-Verein gab bei Spethmann eine Darstellung des Ruhrbergbaus in Krieg und Nachkriegszeit in Auftrag und machte ihm dazu die Aktenbestände der einzelnen Zechenunternehmen zugänglich.

Spethmann rühmt sich, er habe sich, überschlagsmäßig gerechnet, durch ,,eine Aktensäule von 24 m Höhe“ durchgearbeitet – das ist jedoch bei dem Zeitraum, den sein Werk umfaßt, durchaus keine imponierende Leistung. Außerdem zog Spethmann die Tagespresse und die stenographischen Berichte des Preußischen Landtags und des Reichstags heran, jedoch nach seinen eigenen Worten nur ,,zur Ergänzung“ und in der Regel mit dem Ergebnis, daß sie an Hand der Zechenakten „berichtigt“ werden mußten. Ein Blick in Spethmanns Werk zeigt außerdem, daß er die Tagespresse und die Parlamentsprotokolle nur höchst kursorisch durchgesehen hat.

Es liegt auf der Hand, daß Spethmanns Werk parteiisch im Sinne der Zechenunternehmer werden mußte, auch wenn Spethmann selbst sich gegen diesen – offenbar von ihm vorausgesehenen – Vorwurf zu seinem Werk verwahrt. Zum einen dürfte die Wahl des Bergbau-Vereins nicht zufällig auf ihn gefallen sein – Spethmann schließt das Vorwort zu seinem Werk mit dem Satz: „Wer deutsche Geschichte kennt, weiß nur zu gut, daß gerade das deutsche Volk mit seinen vielen edlen, aber auch schwachen Seiten die Führung von Männern braucht und nicht die Herrschaft: der Masse.“

Vor allem aber ist das Material, auf das er sich stützt, notwendigerwelse höchst einseitig; es hält die Vorgänge so fest, wie die Zechendirektionen sie sahen oder – sehen wollten. Man kann dieses Urteil um so begründeter fällen, als Spethmann – offenkundig unfähig, einen historischen Stoff selbständig zu durchdringen -sich damit begnügt, seine Quellen (also fast ausschließlich Akten der Zechen) wörtlich oder nur leicht umformuliert wiederzugeben, und sie nur noch in eine oberflächliche und grobschlächtige Ordnung bringt.

Entstehungsgeschichte, Inhalt und Wirkung des Spethmannschen Werks werfen allgemeinere Fragen auf, die wir hier nur andeuten können. Eine kritische Wissenschaftsgeschichte des Ruhrgebiets – die bisher nicht existiert – würde zeigen, daß im Ruhrgebiet wie vielleicht in keiner anderen Region Deutschlands die Wissenschaft seit jeher vom Industriekapital gefördert oder mindestens inspiriert wurde und daher die Herrschaft des Kapitalismus ideologisch verdoppelte. In einer solchen Wissenschaftsgeschichte würde Spethmanns Werk einen zentralen Platz einnehmen.

Was speziell den Ruhraufstand betrifft, so geht Spethmanns Urteil dahin: Der Aufstand war von den Kommunisten von langer Hand geplant und vorbereitet, er wurde durch den Militärputsch nur ausgelöst, nicht verursacht. Nach dem Sieg der Roten Armee bildeten sich „bolschewistische Zustände“ heraus, in denen alle nur denkbaren Gewalttaten bis hin zum offenen Mord verübt wurden. Speihmann fragt, wer das Ruhrgebiet und Im weiteren Sinne „den Staat“ vor dem drohenden Chaos gerettet habe, und gibt die Antwort: das Militär.

Er streicht so kräftig wie möglich die Gegensätze zwischen Watter und Severing heraus und betont, daß Severing, „mehr Partei- als Staatsmann“, nach links hin immer wieder schwächlich nachgab und Watter, der energisch zufassen wollte, in den Arm fiel. Schließlich, als alle Verhandlungsbemühungen Severings an der Unnachgiebigkeit und Hinterhältigkeit der „Roten“ gescheitert seien, habe sich Watters Standpunkt als der richtige erwiesen, und so sei Watter zu Recht als „Retter des Ruhrgebiets“ bezeichnet worden.

Von Spethmanns Werk führt ein gerader Weg zur Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus. Das zeigen nicht nur die Veröffentlichungen Spethmanns nach 1933, das zeigt auch die Tatsache, daß nach 1933 zahllose Gedenkartikel in Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, Büchern erschienen sind, die nichts weiter tun, als Spethmanns Darstellung des Ruhraufstands abzuschreiben und auszuschmücken.

zitiert nach Erhard Lucas : Märzrevolution im Ruhrgebiet , Band I