Das Proletariat 1870

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3. Mai 1875

Aber auch das Proletariat ist der Parallele mit 1525 noch nicht entwachsen. Die ausschließlich und lebenslänglich auf den Arbeitslohn angewiesene Klasse bildet noch immer bei weitem nicht die Mehrzahl des deutschen Volkes. Sie ist also auch auf Bundesgenossen angewiesen. Und diese können nur gesucht werden unter den Kleinbürgern, unter dem Lumpenproletariat der Städte, unter den kleinen Bauern und den Ackerbautaglöhnern.

Von den Kleinbürgern haben wir schon gesprochen. Sie sind höchst unzuverlässig, ausgenommen wenn man gesiegt hat, dann ist ihr Geschrei in den Bierkneipen unermeßlich. Trotzdem gibt es unter ihnen sehr gute Elemente, die sich den Arbeitern von selbst anschließen.

Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Arbeiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: Mort aux voleurs! Tod den Dieben! und auch manche erschossen, so geschah das nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, daß man vor allem sich diese Bande vom Hals halten müsse. Jeder Arbeiterführer, der diese Lumpen als Garde verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung.

Die kleinen Bauern – denn die größeren gehören zur Bourgeoisie – sind verschiedener Art. Entweder sind sie Feudalbauern und haben dem gnädigen Herrn noch Frondienste zu leisten. Nachdem die Bourgeoisie versäumt hat, was ihre Schuldigkeit war, diese Leute von der Fronknechtschaft zu erlösen, wird es nicht schwer sein, sie zu überzeugen, daß sie nur noch von der Arbeiterklasse Erlösung zu erwarten haben.

Oder sie sind Pächter. In diesem Fall existiert meist dasselbe Verhältnis wie in Irland. Die Pacht ist so hoch getrieben, daß der Bauer mit seiner Familie bei Mittelernten nur eben knapp leben kann, bei schlechten Ernten fast verhungert, die Pacht nicht zahlen kann und dadurch ganz von der Gnade des Grundbesitzers abhängig wird. Für solche Leute tut die Bourgeoisie nur dann etwas, wenn sie dazu gezwungen wird. Von wem sollen sie Heil erwarten, außer von den Arbeitern?

Bleiben die Bauern, welche ihren eigenen kleinen Grundbesitz bewirtschaften. Diese sind meistens so mit Hypotheken belastet, daß sie vom Wucherer ebenso abhängen wie die Pächter vom Grundherrn. Auch ihnen bleibt nur ein knapper und noch dazu wegen der guten und schlechten Jahre äußerst unsichrer Arbeitslohn. Sie können am allerwenigsten von der Bourgeoisie etwas erwarten, denn sie werden ja grade von den Bourgeois, den wuchernden Kapitalisten ausgesogen. Aber sie hängen meist sehr an ihrem Eigentum, obwohl es in Wirklichkeit nicht ihnen gehört, sondern dem Wucherer. Dennoch wird ihnen beizubringen sein, daß sie nur dann vom Wucherer befreit werden können, wenn eine vom Volk abhängige Regierung die sämtlichen Hypothekenschulden in eine Schuld an den Staat verwandelt und dadurch den Zinsfuß erniedrigt. Und dies kann nur die Arbeiterklasse durchsetzen.

Überall, wo mittlerer und großer Grundbesitz herrscht, machen die Ackerbautaglöhner die zahlreichste Klasse auf dem Lande aus. Dies ist in ganz Nord- und Ostdeutschland der Fall, und hier finden die Industriearbeiter der Städte ihre zahlreichsten und natürlichsten Bundesgenossen. Wie der Kapitalist dem industriellen Arbeiter, so steht der Grundbesitzer oder Großpächter dem Ackerbautaglöhner gegenüber. Dieselben Maßregeln, die dem einen helfen, müssen auch dem andern helfen.

Die industriellen Arbeiter können sich nur befreien, wenn sie das Kapital der Bourgeois, d.h. die Rohprodukte, Maschinen und Werkzeuge und Lebensmittel, welche zur Produktion erforderlich sind, in das Eigentum der Gesellschaft, d.h. in ihr eignes, von ihnen gemeinsam benutztes verwandeln. Ebenso können die Landarbeiter nur aus ihrem scheußlichen Elend erlöst werden, wenn vor allem ihr Hauptarbeitsgegenstand, das Land selbst, dem Privatbesitz der großen Bauern und noch größeren Feudalherren entzogen und in gesellschaftliches Eigentum verwandelt und von Genossenschaften von Landarbeitern für ihre gemeinsame Rechnung bebaut wird. Und hier kommen wir auf den berühmten Beschluß des Baseler internationalen Arbeiterkongresses: daß die Gesellschaft das Interesse habe, das Grundeigentum in gemeinsames, nationales Eigentum zu verwandeln.

Dieser Beschluß ist gefaßt worden hauptsächlich für die Länder, wo großes Grundeigentum und, damit zusammenhängend, Bewirtschaftung großer Güter besteht und auf diesen großen Gütern ein Herr und viele Taglöhner. Dieser Zustand ist aber im ganzen und großen in Deutschland noch immer vorherrschend, und daher war der Beschluß, nächst England, gerade für Deutschland höchst zeitgemäß. Das Ackerbauproletariat, die Landtaglöhner – das ist die Klasse, aus der sich die Armeen der Fürsten der großen Masse nach rekrutieren; das ist die Klasse, die jetzt die große Menge der Feudalherren und Junker kraft des allgemeinen Stimmrechts ins Parlament schickt; das ist aber auch die Klasse, die den industriellen Arbeitern der Städte am nächsten steht, die mit ihnen dieselben Lebensbedingungen teilt, die sogar noch tiefer im Elend steckt als sie.

Diese Klasse, die ohnmächtig ist, weil sie zersplittert und zerstreut ist, deren verborgene Macht Regierung und Adel so gut kennen, daß sie absichtlich die Schulen verkommen lassen, damit sie nur ja unwissend bleibe, diese Klasse lebendig zu machen und in die Bewegung hineinzuziehen, das ist die nächste, dringendste Aufgabe der deutschen Arbeiterbewegung. Von dem Tage an, wo die Masse der Landtaglöhner ihre eigenen Interessen verstehen gelernt hat, von dem Tage an ist eine reaktionäre, feudale, bürokratische oder bürgerliche Regierung in Deutschland unmöglich.

 

in: „Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg“ – geschrieben im Sommer 1850, zuerst in: „Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue“, Fünftes und Sechstes Heft, Mai bis Oktober 1850, von Friedrich Engels zuletzt bearbeitet 1875.