Jetzt müssen Tausende bewaffnet sein

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11. Januar 1919

Heute war ein blutiger Revolutionstag. Der erste wirkliche Barrikadensturm. Kanonenschießen und Maschinengewehrfeuer auf der Straße, von den Dächern herab! Es herrscht wieder eine Regierung mit starker Faust! Jetzt wird bald Ruhe kommen.

Die ganze Nacht hindurch hörten wir Schüsse fallen. Mittags fahre ich zur Stadt und konnte ungefährdet zur Friedrichstr. gelangen, um von dort zu Fuß nach der Marienstraße in die Fabrik zu gehen. Die Linden waren der Länge nach abgesperrt, aber durften durchquert werden. Ich höre, daß das Komödienhaus am Schiffbauerdamm von Spartakusleuten besetzt sei und vormittags in der Luisenstraße eine Schießerei stattfand. Selbst in der sonst so stillen Marienstraße war gestern ein Maschinengewehr aufgestellt.

Überall sieht man Soldaten mit ihren Sturmhauben, die malerisch wie die antiken Bronzehelme der Griechen wirken. Jedenfalls sind sie viel künstlerischer als die alten Pickelhauben mit ihrem unmotivierten Dorn auf dem Kopfe. Die Sturmhaube ist ein Symbol des wirklichen Schutzes, dagegen der mit dem Adler verzierte alte Lackhelm mit der Spitze ein elegantes Dekorationsstück ohne viel praktischen Wert.

Als ich gegen 3 nach Hause gehen will, stehen die Straßenbahnwagen in der Französischenstraße in endloser Reihe. Aller Verkehr stockt. Leipzigerstraße und Potsdamer Platz sind gesperrt. Die Mittagsblätter berichten, daß der „Vorwärts“ gestürmt sei, desgleichen die Druckerei von Büxenstein. Endlich ein Erfolg. Jetzt wird um die Mossedruckerei gekämpft. Ich höre, daß das Polizeipräsidium und das Hauptquartier in die Bötzow-Brauerei verlegt seien.

Noch immer soll die Spartakusbesatzung Zuzug erhalten. Ich hatte die Macht weit unterschätzt. Genaue Angaben sind nicht zu erhalten, und ich glaubte immer nur, daß es sich um einige hundert fanatische Kämpfer handelt, aber jetzt müssen Tausende bewaffnet sein, denn jedes besetzte Gebäude ist als Festung ausgebaut und von mehreren hundert Mann besetzt.

Immer neue Überfälle aus den verschiedensten Teilen der Stadt werden gemeldet. Im Westen auf dem Winterfeldplatz ist eine Baracke gestürmt, im Tiergarten soll ein Schützengraben gebaut sein, am Anhalter Bahnhof werden beständig Überfälle versucht.

Was denken sich die Menschen? Woran glauben diese kampfbereiten Massen? Wie kann man ernsthaft annehmen, daß es möglich sei, mitten in einer Fünfmillionenstadt ein einzelnes Haus zu besetzen und zu halten, wenn nicht die Masse das Volkes mitgerissen wird und zur Unterstützung herbeieilt? Ist es die freigewordene Rache der aufgespeicherten Unzufriedenheit? Ist es Abenteuerlust der Rotte nach Gewinn und hoher Löhnung oder die Hoffnung auf Plündern? Ich glaube, daß diese letzten Motive den größten Teil der Spartakusleute beseelt, die nur von ganz wenig utopistischen Menschheitsidealisten geführt und verleitet werden! Sicher meinen es viele ganz ehrlich, und sicher glauben viele der Mitläufer an das, was die spartakistischen Führer ihnen erzählen. Massensuggestion!

Jedenfalls lügen die Flugblätter, die nur von Räubern und Gesindel sprechen. Denn solche Todesmut gegen eine überwältigende Übermacht, die dem gesunden Menschen als sinnlos erscheint, muß von einem starken Idealgefühl getragen werden. Das plündernde und raubende Gesindel sind nur die Mitläufer, die in einer Großstadt stets zahlreich vorhanden sind. Interessant wäre es, festzustellen, wie viele wirklich fanatisch überzeugte Anhänger und Gläubige des Bolschewismus nach Abzug der schlechten Elemente und der radaulustigen Mitläufer übrigbleiben.

Die Abendblätter bringen ausführliche Beschreibungen des Kampfes, der an den Kolonnaden des Belleallianceplatzes begann, dann gegen die auf den Dächern der Häuser verborgenen Schützen vordrang bis zur stark verbarrikadierten Fabrik des „Vorwärts“ mit seinen hintereinander gelegenen Höfen. Schwerste Bomben und Flammenwerfer waren in Tätigkeit, mit Handgranaten wurden die Tore gesprengt, und erst den vordringenden Sturmtruppen ergaben sich die Verteidiger. 300 Gefangene wurden gemacht und 100 Maschinengewehre erbeutet.

Der gleiche Kampfesgeist, der Schulter an Schulter Arbeiter und Soldaten durch die Kriegsjahre vor dem Feinde standhalten ließ, wurde von beiden Parteien auch im Bruderkampf bewährt. Wie traurig, daß diese trotzigen Kräfte, verführt durch den fanatischen Führer, sich gegenseitig vernichten müssen, nachdem sie gemeinsam gegen eine Welt von Feinden siegreich gekämpft hatten.

Aber es muß Ordnung herrschen. Es muß eine Regierung auch die Kraft ihrer Selbstbehauptung besitzen. Hoffentlich fällt jetzt eine Festung der Spartakusleute nach der anderen, und leider darf es mit Verführten kein Mitleid geben, damit nicht fortdauernd der anarchistische Gedanke das ganze Land verseucht.

Vormittags sind Tausende treuer Regierungstruppen aus der Umgegend einmarschiert und sollen hier bleiben zum Schutze der Nationalversammlung. Immer neue Truppen werden erwartet. In meiner Fabrik sind alle Arbeiter pünktlich wie immer zur Stelle. Die Künstler malen ihre Blümchen, die Lithographen machen ihre Punkte auf den Stein, die Maschinenmeister drucken und schimpfen, und wenn Differenzen entstehen, so handelt es sich um Lohnerhöhung und verkürzte Arbeitszeit – keine Aufregung, kein politisches Fühlen. An die Schießerei haben sich alle gewöhnt und hören kaum mehr hin. …

Quelle: Aufzeichnung aus dem Tagebuch des Unternehmers und Kunsthistorikers Oskar Münsterberg (1865-1920) aus Berlin (DHM-Bestand): Münsterberg wurde 1906 Direktor der National-Zeitung in Berlin, ab 1909 Verlagsleiter in Leipzig und 1912 Direktor der Druckerei W. Hagelberg in Berlin