Druck zu wucherischen Mehrverdiensten ?

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9. Januar 1919

In der Nacht hörten wir einzelne Schüsse, doch morgens war alles ruhig. In der Nähe unserer Wohnung, beim Reichsmarineamt, wurde auch geschossen. Ein Passant in der Lützowstraße ist verwundet, und in unseren stillen Square, gegenüber von unseren Fenstern, bei Frl. Marelle, hat sich eine Gewehrkugel auf den Balkon verirrt!

Über Nacht haben zwar vereinzelte Angriffe stattgefunden, aber im ganzen hat die Massenbewegung in der Stadt nachgelassen. Stellungskrieg, wie es im Felde war! Die von Spartakus besetzten Druckereien und sonstigen Gebäude sind besetzt, während die Regierung die Wilhelmstraße nahe dem Reichskanzlerpalais durch Soldaten heute abgesperrt hat. Heute sind keine Demonstrationen und auch wenig Neugierige in den Straßen, da die Angestellten der Elektrischen streiken. Sylvester haben die Kellner gestreikt, aber geradeso wie die Angestellten der Elektrischen nur wegen Lohnforderungen, nicht aus politischen Gründen. Beide Klassen waren bisher gut bezahlt, aber sie wollten die Gelegenheit wahrnehmen, um einen Druck zu wucherischen Mehrverdiensten auszuüben.

An den Straßenecken sieht man jetzt überall in Uniform und Zivil die frischbewaffneten Regierungstruppen, meist blutjunge Menschen mit umgehängten Gewehren, Handgranaten im Gürtel, Patronenstreifen über der Schulter. Das Brandenburger Tor, die Linden, die Wilhelmstraße sind abgesperrt, und das Stehenbleiben und Gruppenbilden ist überall verboten. Sonst geht alles seinen Geschäften nach, und in den Nebenstraßen merkt man überhaupt nicht, daß Revolution ist, wenn man nicht von Zeit zu Zeit Schüsse hören würde.

Ich gehe zu Fuß durch den Tiergarten und am Reichstag herum über den Karlsplatz nach meinem Geschäft. Das Brandenburger Tor und der Reichstag sind von Soldaten mit Maschinengewehren besetzt, wie im Kriege bei feindlichen Angriffen. Und dazwischen hängen noch die grünen, rot bebänderten Kränze vom Einzug der Truppen. In der Mitte des Brandenburger Tors steht groß auf der Fahne geschrieben:“Friede und Freiheit“. Das Merkwürdige ist, daß bei dem freien Straßenverkehr Freund und Feind friedlich nebeneinander einhergehen. Nur so ist es möglich, daß das offenbar nicht vollkommen abgesperrte spartakistische Polizeipräsidium durch Autos und Radfahrer überall Verkehr aufrechterhält und immer neue Arbeitertrupps bewaffnen kann.

Die besetzten Gebäude müssen wie Festungen völlig umzingelt werden, so daß Hunger und Munitionsmangel zur blutlosen Übergabe zwingen. Aber hierzu sind Soldatenmassen nötig, die vorläufig offenbar noch nicht der Regierung zur Verfügung stehen. Nur das Reichskanzlerpalais und die Ministerien sind in dieser Weise erfolgreich geschützt.

Auch will man offenbar vermeiden, unnütz die Nachbarhäuser mit ihren Einwohnern und die Passanten der Straßen zu gefährden. Sonst wäre ein Zusammenschießen mit Kanonen oder mit Fliegerbomben schnell durchgeführt. Schließlich ist es doch nur eine Frage der Zeit, denn wie kann ein einzelnes Gebäude sich auf die Dauer gegen die täglich zunehmenden Regierungstruppen halten? …

Quelle: Aufzeichnung aus dem Tagebuch des Unternehmers und Kunsthistorikers Oskar Münsterberg (1865-1920) aus Berlin (DHM-Bestand): Münsterberg wurde 1906 Direktor der National-Zeitung in Berlin, ab 1909 Verlagsleiter in Leipzig und 1912 Direktor der Druckerei W. Hagelberg in Berlin