Der Belagerungszustand deutscher Nation

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10. Mai 1914

Dreiunddreißig Jahre lang hat der „Belagerungszustand deutscher Nation“ gewährt, und kaum eine Epoche deutscher Geschichte ist mit bitteren Erinnerungen so gesättigt wie die Zeit von den Befreiungskriegen bis zum Ausbruch der Revolution im Jahre 1848. Eine blasierte Diplomatie, eine pfiffige und brutale Polizei, ein hier romantisch schwärmender, dort in kalter Eigensucht erstarrter Absolutismus wollte das deutsche Volk von den großen und gefährlichen Taten entwöhnen, mit denen es sein Geschick selber zu erfüllen hat. Der Erfolg dieses heißen Bemühens war die Revolution.

Man hat die „deutsche Revolution“ ins Lächerliche gezogen, weit sie im ganzen gutartig verlief und endlich ohne äußeren Erfolg blieb. Dieser Humor ist aber nicht von der befreienden Gattung, soviel des Lächerlichen auch im einzelnen an die Oberfläche sprang. Nur wer die Tragik dieser Bewegung gefühlt hat, darf über den komischen Schatten, den sie gelegentlich wirft, auch lächeln. Die deutsche Revolution des Jahres 1848 ist auch keine von ausländischen Emissären in Szene gesetzte Nachahmung der französischen. Sie ist in ihrer Stärke und in ihrer Schwäche deutsch. Sie war eine Angelegenheit der ganzen Nation. Dafür spricht schon die Existend des deutschen Nationalparlamentes. Dieses Parlament ift aus der Revolution hervorgegangen, es versammelte die bedeutendsten Männer aus dem ganzen deutschen Volk. Niemand aber hat es noch gewagt, den edlen und großen Gesamtwillen dieser Körperschaft anzutasten. Das deutsche Volk hat keinen Anlaß, an jener Zeit vorüberzuschleichen. Denn dieselben Ziele, welche die einen auf die Sandhaufen in die Zuchthäuser brachten, führten kaum ein Menschenalter später die anderen in das Pantheon der Nation. Kein einziger von denen, die damals berufen gewesen wären…

in: Der Vorkampf deutscher Einheit und Freiheit – 1848 , Vorwort des Herausgebers Tim Klein, 1914