Die deutsche Revolution 1918-1919

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9. November 1918

Wohl über keinen historischen Vorgang ist so viel gelogen worden wie über die deutsche Revolution von 1918. Drei Legenden insbesondere haben sich als zählebig bis zur Unausrottbarkeit erwiesen. Die erste ist besonders beim deutschen Bürgertum – auch heute noch – weit verbreitet. Sie besteht ganz einfach in der Leugnung der Revolution. Eine wirkliche Revolution, so kann man immer noch vielfach hören, hat in Deutschland 1918 gar nicht stattgefunden. Alles, was sich wirklich abgespielt hat, war ein Zusammenbruch. Nur die momentane Schwäche der Ordnungsgewalten im Augenblick der Niederlage ließ eine Matrosenmeuterei als Revolution erscheinen.

Wie falsch und blind das ist, das sieht man auf einen Blick, wenn man 1918 mit 1945 vergleicht. Da allerdings gab es wirklich nur einen Zusammenbruch. Gewiss gab 1918 eine Matrosenmeuterei den Anstoß zur Revolution, aber eben nur den Anstoß. Das Außerordentliche war eben dies: dass eine bloße Matrosenmeuterei in der ersten Novemberwoche 1918 ein Erdbeben auslöste, das ganz Deutschland erschütterte; dass das gesamte Heimatheer, die gesamte städtische Arbeiterschaft, in Bayern überdies noch ein Teil der Landbevölkerung sich erhoben. Diese Erhebung aber war keine bloße Meuterei mehr, sie war eine echte Revolution. Es ging dabei nicht mehr, wie noch am 29. und 30. Oktober bei der Hochseeflotte auf SchilligReede, nur um Gehorsamsverweigerung. Worum es ging, das waren der Sturz einer herrschenden Klasse und die Umgestaltung eines Staats. Und was ist eine Revolution, wenn nicht genau dies?

Wie jede Revolution stürzte auch diese eine alte Ordnung und setzte an ihre Stelle die Anfänge einer neuen. Sie war nicht nur zerstörerisch, sie war auch schöpferisch. Ihre Schöpfung waren die Arbeiter und Soldatenräte. Dass dabei nicht alles glatt und ordentlich zuging, dass die neue Ordnung nicht sofort so reibungslos funktionierte wie die gestürzte alte, dass auch Unschönes und Lächerliches mit unterlief in welcher Revolution wäre das anders gewesen? Und dass die Revolution natürlich in einem Augenblick der Schwäche und Blamage der alten Ordnung losbrach und ihren Sieg zum Teil dieser Schwäche verdankte, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Das ist in keiner Revolution der Geschichte anders gewesen.

Dagegen muss man sogar als einen besonderen Ruhmestitel der deutschen Novemberrevolution von 1918 ihre Selbstdisziplin, Gutmütigkeit und Menschlichkeit verbuchen, die umso bemerkenswerter ist, als die Revolution fast überall das spontane Werk führerloser Massen war. Der eigentliche Held dieser Revolution sind die Massen gewesen der Zeitgeist hat das genau herausgespürt: Nicht zufällig waren die Höhepunkte deutscher Theater und Filmkunst in jenen Jahren großartige Massenszenen, nicht zufällig hieß Ernst Tollers damals berühmtes Revolutionsdrama Masse Mensch. Als revolutionäre Massenleistung steht der deutsche November 1918 weder hinter dem französischen Juli 1789 noch hinter dem russischen März 1917 zurück.

Dass die deutsche Revolution kein Hirngespinst und kein Phantom war, sondern eine lebendige und robuste Wirklichkeit, dafür gibt es schließlich noch ein anderes Zeugnis: die Ströme von Blut, die es im ersten Halbjahr 1919 kostete, sie zurückzurollen und niederzuschlagen.
Wer die Revolution niedergeschlagen hat, daran gibt es keinen Zweifel. Es war die Führung der SPD, es war Ebert mit seiner Mannschaft. Auch daran gibt es keinen Zweifel, dass die SPDFührer, um die Revolution niederschlagen zu können, sich zunächst an ihre Spitze gestellt hatten, dass sie sie also verrieten. In den Worten des unbestechlichen sachverständigen Zeugen Ernst Troeltsch: Die SPDFührer «adoptierten um der Wirkung auf die Massen willen die Revolution, die sie nicht gemacht hatten und die von ihrem Standpunkt aus eine Fehlgeburt war, als ihr eigenes, lange verheißenes Kind».

Hier gilt es genau zu sein; hier zählt jedes Wort. Es trifft zu, dass die SPD-Führer die Revolution nicht gemacht und nicht gewollt hatten. Aber es ist ungenau, wenn Troeltsch sagt, dass sie sie nur «adoptierten». Die Revolution wurde von ihnen nicht nur «adoptiert», sie war wirklich ihr eigenes, lange verheißenes Kind. Sie hatten sie wirklich fünfzig Jahre lang gepredigt und versprochen. Auch wenn «ihr eigenes, lange verheißenes Kind» für die SPD jetzt ein unerwünschtes Kind geworden war: Sie war und blieb seine leibliche Mutter; und als sie es tötete, war das Kindestötung.

Wie jede Kindesmörderin sich auf eine Totgeburt oder Fehlgeburt herauszureden versucht, so auch die SPD. Das ist der Ursprung der zweiten großen Legende über die deutsche Revolution: dass sie nicht die von den Sozialdemokraten seit fünfzig Jahren proklamierte Revolution gewesen sei, sondern eine bolschewistische Revolution, ein russischer Importartikel, und dass die SPD Deutschland vor dem «bolschewistischen Chaos» bewahrt und gerettet habe (nebenbei: Der Ausdruck «bolschewistisches Chaos» ist in sich selbst eine terminologische Lüge; Bolschewismus, was immer gegen ihn einzuwenden ist, ist das Gegenteil von Chaos, nämlich straffste, diktatorische, wenn man will: tyrannische Ordnung.

Diese Legende, von den Sozialdemokraten erfunden, wird von den Kommunisten, gewollt oder ungewollt, gestützt: Denn sie nehmen das ganze Verdienst an der Revolution für die KPD oder ihre Vorgängerin, die Spartakusgruppe, in Anspruch und bestätigen also ruhmredig, was die Sozialdemokraten als Rechtfertigung für sich selbst und Anklage gegen die Revolution vorbringen: dass die Revolution des November 1918 eine kommunistische (oder «bolschewistische») Revolution gewesen sei.

Aber auch wenn Sozialdemokraten und Kommunisten ausnahmsweise einmal das Gleiche sagen, wird es dadurch noch nicht wahr. Die Revolution von 1918 war kein russischer Importartikel, sie war deutsches Eigengewächs; und sie war keine kommunistische, sie war eine sozialdemokratische Revolution genau die Revolution, die die SPD fünfzig Jahre lang vorausgesagt und gefordert, auf die sie ihre Millionen Anhänger vorbereitet und als deren Organ sie sich ihnen ihr Leben lang angeboten hatte.

Das ist leicht zu beweisen. Nicht die zahlenmäßig und organisatorisch ganz unzulängliche Spartakusgruppe machte die Revolution, sondern Millionen sozialdemokratisch wählende Arbeiter und Soldaten. Die Regierung, die diese Millionen forderten auch noch im Januar 1919 wie vorher schon im November 1918 , war nicht eine spartakistische oder kommunistische Regierung, sondern eine Regierung der wieder vereinigten Sozialdemokratischen Partei. Die Verfassung, die sie erstrebten, war keine Diktatur des Proletariats, sondern eine proletarische Demokratie: Das Proletariat, nicht das Bürgertum wollte fortan die herrschende Klasse sein, aber es wollte demokratisch herrschen, nicht diktatorisch. Die entmachteten Klassen und ihre Parteien sollten parlamentarisch mitreden dürfen, ungefähr so, wie im wilhelminischen Reich die Sozialdemokraten hatten parlamentarisch mitreden dürfen.
Auch die Methoden der Revolution waren vielleicht zu ihrem Schaden alles andere als bolschewistisch oder leninistisch. Sie waren, genau betrachtet, nicht einmal marxistisch, sondern lassalleanisch: Der entscheidende Machthebel, nach dem die revolutionären Arbeiter, Matrosen und Soldaten griffen, war nicht, wie es marxistischer Lehre entsprochen hätte, das Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern die Staatsgewalt. Damit betraten sie, wie es im sozialdemokratischen Kampflied hieß, «die Bahn, die uns geführt Lassalle».

Die revolutionären Massen griffen, wie es der Wegbereiter der Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle nicht Marx in den achtzehnhundertsechziger Jahren gefordert hatte, nach der Staatsmacht, nicht nach der Wirtschaftsmacht. Sie besetzten nicht die Fabriken, sondern die Ämter und Kasernen. Sie wählten als «Volksbeauftragte» die sozialdemokratischen Führer.

Und diese Führer benutzten, nachdem sie sich von der Revolution die Staatsgewalt hatten übertragen lassen, diese Gewalt, um die Revolution ihre eigene, lange verheißene, endlich Wirklichkeit gewordene Revolution blutig niederzuschlagen. Sie richteten die Kanonen und Maschinengewehre auf ihre eigenen Anhänger. Was der Kaiser vergeblich versucht hatte das zurückkehrende Feldheer auf die revolutionären Arbeiter loszulassen , das versuchte von Anfang an auch Ebert. Und als dies ihm ebenso wenig gelang, zögerte er nicht, noch einen Schritt weiterzugehen und die extremsten Anhänger der militanten Gegenrevolution, die Feinde der bürgerlichen Demokratie, ja seine eigenen Feinde, die Vorläufer des Faschismus in Deutschland, zu bewaffnen und gegen seine arglosen Anhänger zu mobilisieren.

Das ist die Tatsache: Was die SPD blutig niedergeworfen hat und wovor sie also, wenn man so will, Deutschland «bewahrt» oder «gerettet» hat, ist keine kommunistische Revolution, sondern eine sozialdemokratische. Die sozialdemokratische Revolution, die in Deutschland 1918 stattfand, ist, wie es schon Prinz Max von Baden in der Woche vor dem 9. November ahnungsvoll erhofft hatte, «erstickt» worden in ihrem Blut erstickt; aber nicht von den Prinzen und Monarchen, die sie gestürzt, vielmehr von ihren eigenen Führern, die sie vertrauensvoll an die Macht getragen hatte. Sie ist mit äußerster, rücksichtslosester Gewalt niedergeschlagen worden, nicht von vorn, in ehrlichem Kampf: von hinten, durch Verrat.
Ganz gleich, auf welcher Seite man dabei steht und ob man das Ergebnis bedauert oder begrüßt: Es ist ein Vorgang, der den Namen Ebert und Noske eine unrühmliche Unsterblichkeit sichert. Zwei Urteile, damals ausgesprochen und von denen, die sie aussprachen, mit ihrem Leben besiegelt, hallen immer noch durch die Jahrzehnte. Der sozialdemokratische Parteiveteran und Parteihistoriker Franz Mehring sagte im Januar 1919, kurz ehe er an gebrochenem Herzen starb: «Tiefer ist noch keine Regierung gesunken.»

Und Gustav Landauer, nicht lange vor seinem Tode unter den Händen genauer: unter den Stiefeln der Freikorpssoldaten Noskes: «In der ganzen Naturgeschichte kenne ich kein ekelhafteres Lebewesen als die Sozialdemokratische Partei.»

Es macht Ebert und Noske nicht sympathischer, dass sie keine Schurken großen Formats waren, sondern Biedermänner. Das Monströse ihrer historischen Tat findet keine Entsprechung in ihrem privaten Charakter. Wenn man nach ihren Motiven sucht, findet man nichts Dämonisches oder SatanischGroßartiges, nur Banales: Ordnungsliebe und kleinbürgerliches Strebertum. Dass sie die Unordnung, die nun einmal mit jeder Revolution verbunden ist, ehrlich verabscheuten und mit beinahe panischer Angst fürchteten, kann man ihnen ohne weiteres glauben, auch wenn sie merkwürdigerweise keine solche Furcht vor der ebenso großen und blutigeren Unordnung der Gegenrevolution hatten. Tiefer aber noch als die Ordnungspanik saß wohl in ihnen der Stolz des Kleinbürgers, der sich plötzlich zur großen Welt zugelassen mehr noch, von der großen Welt zu Hilfe gerufen sieht.

Dass bürgerliche Parlamentskollegen die «vaterlandslosen Gesellen» von einst plötzlich mit Respekt behandelten, dass Männer wie Groener und Prinz Max ihnen eine schmeichelhafte Vertraulichkeit, dass gar der Kaiser und Hindenburg eine gnädige Herablassung bezeigten, dass alle diese einst Gefürchteten und Beneideten in ihrer Not jetzt Ebert und die Seinen als ihren letzten Rettungsanker anerkannten das erzeugte in den so Geehrten eine warme Woge zutraulicher und stolzer Loyalität, der sie jedes Opfer brachten, auch tausendfache Menschenopfer. Sie opferten diejenigen, die ihnen folgten und vertrauten, freudig denen, von denen sie sich begönnert fanden. Das Scheußliche wurde mit treuherzig aufblickendem Biedersinn getan.

Ebert vertraute den Generalen, Prinzen und Großbürgern, die ihm «das Deutsche Reich ans Herz legten», dabei ebenso arglos, wie die sozialdemokratischen Arbeiter, Matrosen und Soldaten, die die Revolution machten, ihm vertrauten. Und so wie er die Revolution verriet, so verrieten die, die er mit seinem Verrat bediente, nach getaner Arbeit ihn. Das Mittel, mit dem sie das taten, war die dritte der drei großen Legenden über die deutsche Revolution: die Dolchstoßlegende.

Die Behauptung, dass die sozialdemokratische Revolution die deutsche Niederlage verschuldet und «die siegreiche Front von hinten erdolcht» habe, wurde von Hindenburg und Ludendorff öffentlich aufgestellt, sowie Ebert und Noske mit der Niederwertung der Revolution fertig geworden waren, und sie wurde vom deutschen Bürgertum ein Vierteljahrhundert lang geglaubt.

Diese Behauptung war selber ein Dolchstoß ein Dolchstoß in den Rücken der sozialdemokratischen Führer, denen das kaiserliche Deutschland im Oktober und November 1918 seine Niederlage angehängt und seine Rettung anvertraut hatte. ( Ludendorff : «Sie sollen die Suppe jetzt essen …»)

Nachdem sie die Niederlage loyal auf sich genommen hatten (Ebert zu den heimkehrenden Truppen: «Kein Feind hat euch überwunden …») und dem deutschen Bürgertum den Leichnam der Revolution apportierend zu Füßen gelegt hatten, bekamen sie ihren Lohn in Form der Dolchstoßlegende. Ebert selbst wurde in den folgenden Jahren mit dem vollkommen unbegründeten, aber unablässig wiederholten und gerichtlich sanktionierten Vorwurf des Landesverrats buchstäblich zu Tode gehetzt.
Man könnte Mitleid mit ihm empfinden, wenn in der Art, wie sich die Geschichte an ihm rächte, nicht auch eine raffinierte Gerechtigkeit läge.

Es gibt eine Ballade der Annette von Droste-Hülshoff, die Eberts Schicksal aufs genaueste vorzeichnet:
Jemand hat bei einem Schiffbruch einen Mitpassagier ermordet, indem er ihn von der rettenden Planke gestoßen hat. Zufällig hat sich ihm dabei das Fabrikationszeichen der Planke eingeprägt: «Batavia Fünfhundertzehn». Der Mord wird nie ruchbar. Aber als der Mörder landet, wird er irrtümlich für einen lang gesuchten Seeräuber gehalten, unschuldig zum Tode verurteilt und zur Hinrichtung geführt.

«Und als er in des Hohnes Stolze
Will starren nach den Ätherhöhn
Da liest er an des Galgens Holze:
Batavia Fünfhundertzehn.»

Das Gedicht heißt: Die Vergeltung.

Auf genau dieselbe umwegige, aber präzise Art traf Ebert die Vergeltung für das, was er mit der Revolution gemacht hatte. Er wurde zu Tode gehetzt mit einer Lüge, mit dem Vorwurf eines Verrats, den er nie begangen hatte. Aber dieser Vorwurf hätte ihn nie treffen können, wenn er nicht einen anderen Verrat tatsächlich begangen hätte. Er hatte nicht die siegreiche Front, wohl aber die siegreiche Revolution von hinten erdolcht. Und zwar denen zuliebe, die nunmehr ihn von hinten erdolchten mit der Dolchstoßlüge.

Eine gewisse Befriedigung über die ästhetische Perfektion dieser komplizierten Symmetrie lässt sich schwer unterdrücken. Man fühlt sich wie auf dem Höhepunkt einer symphonischen Komposition, wenn alle Themen zusammenkommen und dabei ihre gemeinsame Wurzel enthüllen. Oberflächlich gesehen, geschah Ebert mit der Dolchstoßlüge bitteres Unrecht. Tiefer und genauer betrachtet, geschah ihm recht. Er wurde verraten, wie er verraten hatte; und er konnte nur verraten werden, weil er verraten hatte.

Ludendorff hatte am 29. September 1918 seine Niederlage auf die Sozialdemokraten abgeladen, um sie später als die Schuldigen hinstellen zu können. Die Revolution kam ihnen zu Hilfe; sie setzte dazu an, die Falle, die er ihnen gestellt hatte und in der sie ahnungslos saßen, zu zerschlagen. Sie aber verrieten die Revolution und die Falle schnappte zu. Das ist, in drei Sätzen, die ganze Geschichte. Eine furchtbare Geschichte, aber keine sinnlose. Ihre Überschrift könnte heißen:
«Verdiente Strafe».

Leider traf die Strafe für den großen Verrat an der deutschen Revolution von 1918 nicht nur die, die sie verdient hatten.

Der Kollektivheld dieser Revolution, die deutsche Arbeiterschaft, hat sich von dem Nackenschlag, der ihr damals versetzt wurde, nie erholt. Die sozialistische Einigkeit, für die sie so tapfer kämpfte und blutete, ist 1918 für immer verloren worden. Von dem großen Verrat datiert das große Schisma des Sozialismus und der unauslöschliche Hass zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten ein Hass wie zwischen Wölfen und Hunden. (Ein Hund ist bekanntlich ein ehemaliger Wolf, den der Mensch für seine Zwecke gezähmt hat. Die Sozialdemokratie ist eine ehemalige Arbeiterpartei, die der Kapitalismus für seine Zwecke gezähmt hat.) Dieselben Arbeiter, die sich 1918 und auch noch 1919 und 1920 so tapfer und glücklos geschlagen hatten, fanden ihren Kampfgeist gebrochen, als sie ihn fünfzehn Jahre später noch einmal gebraucht hätten gegen Hitler. Und ihre Söhne waren 1945 nicht mehr imstande, die Tat ihrer Väter von 1918 zu wiederholen. Ihre Enkel von heute wissen nicht einmal mehr von ihr. Die revolutionäre Tradition der deutschen Arbeiterschaft ist erloschen.
Und auch das deutsche Volk als Ganzes, einschließlich seiner bürgerlichen Schichten, die damals das Scheitern der Revolution mit begreiflicher Erleichterung und Schadenfreude begrüßten, hat für dieses Scheitern teuer bezahlen müssen: mit dem Dritten Reich, mit der Wiederholung des Weltkrieges, mit der zweiten und schwereren Niederlage und mit dem Verlust seiner nationalen Einheit und Souveränität. Alles das war in der Gegenrevolution, die die sozialdemokratischen Führer auslösten, schon keimhaft enthalten. Vor alledem hätte ein Sieg der deutschen Revolution Deutschland bewahren können.

Noch heute gibt es viele Ebert-Deutsche, die jede Revolution «hassen wie die Sünde»; noch heute gibt es viele, die die Revolution von 1918 verleugnen wie einen Schandfleck der nationalen Geschichte. Aber die Revolution ist kein Schandfleck. Sie war besonders nach vier Jahren Hunger und Ausblutung eine Ruhmestat. Ein Schandfleck ist der Verrat, der an ihr verübt wurde.

Gewiss ist Revolution nichts, das man zum Vergnügen macht; gewiss gehört es zur Staatskunst, Revolution möglichst durch vorbeugende Reform zu vermeiden. Jede Revolution ist ein schmerzhafter, blutiger und schrecklicher Vorgang wie eine Geburt. Aber wie eine Geburt ist jede gelungene Revolution zugleich auch ein schöpferischer, Leben spendender Vorgang.

Alle Völker, die eine große Revolution durchgestanden haben, blicken mit Stolz auf sie zurück; und jede siegreiche Revolution hat das Volk, das sie zustande brachte, für eine Weile groß gemacht: Holland und England im siebzehnten Jahrhundert ebenso wie Amerika und Frankreich im achtzehnten und neunzehnten und Russland und China im zwanzigsten. Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen.
Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute.

Sebastian Haffner, 1968