Demonstrationszug von 50.000 Arbeitern

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10. Januar 1919

Immer neue Truppen von auswärts werden herangezogen, immer neue Scharen melden sich zur Bürgerwehr, und es ist kaum zu verstehen, daß noch immer die wenig Hundert Spartakisten in ihren verbarrikadierten Gebäuden auf einen Erfolg hoffen. Aus der Provinz kommen ebenfalls Nachrichten über radikale Putsche, aber andererseits ist die Sicherheitswache zur Regierung übergetreten, die Marinedivision hat sich neutral erklärt und den früher spartakistischen Führer im Marstall abgesetzt. Die Regierungstruppen bleiben treu, so daß die Machtmittel der Regierung täglich wachsen und der Sieg nur eine Frage von Tagen ist.

Als ich mittags in die Stadt gehe, fahren wieder die Elektrischen, nachdem die Lohnforderungen bewilligt sind und ein Fahrer heute das Einkommen eines besseren Büroangestellten und eines Staatsanwalts hat. Allerdings ist die Bewilligung daran geknüpft, daß die Regierung einer Erhöhung des Fahrpreises zustimmt. Mit anderen Worten, die Angestellten haben ihren Mehrlohn nicht auf Kosten der Kapitalisten, sondern auf Kosten der anderen Arbeiter, die so viel mehr zahlen müssen. Das ist sicher nicht sozialistisch, und dafür wäre die Revolution nicht nötig gewesen. Aber es zeigt, daß im Grunde genommen die wenigsten die politische Seite der Revolution verstehen und nur mitlaufen, um ihre persönlichen wirtschaftlichen Interessen zu fördern. Die große Masse sieht in der Revolution nur eine Lohnforderung.

Es begegnet mir ein Demonstrationszug von vielleicht 50.000 Arbeitern, Männern und Frauen, aus den führenden Betrieben, die bisher die Gefolgschaft der radikalen Führer waren. Auf ihren Schildern steht „Nieder mit den Waffen“, „Wir wollen kein Blutvergießen“, „Einigkeit mit oder gegen die Führer“. Dieselben Männer, die noch vor wenigen Tagen den radikalsten Forderungen gedankenlos zugestimmt haben, erkennen jetzt, daß nur nicht kein Erfolg auf diese Weise erzielt werden kann, sondern befürchten Arbeitslosigkeit und dadurch Verlust des bisher Erreichten.

Die Generale haben keine Truppen mehr! Das Erkennen erwacht in der Masse, aber jetzt darf es keinen Vergleich mehr geben, jetzt muß die Autorität der Regierung fest begründet werden, sonst ist alles verloren.

Während diese friedlichen Massen an mir vorbeiziehen zum Abgeordnetenhaus, ertönen Schüsse von verschiedenen Seiten. Als ich zum Anhalter Bahnhof komme, wird die Straße gesäubert. Als neue Schüsse fallen, stürzen alle Menschen in die Seitenstraßen. Eine merkwürdige Mischung von Geschäftsbetrieb, friedlicher Demonstration und Kriegführen!

Quelle: Aufzeichnung aus dem Tagebuch des Unternehmers und Kunsthistorikers Oskar Münsterberg (1865-1920) aus Berlin (DHM-Bestand): Münsterberg wurde 1906 Direktor der National-Zeitung in Berlin, ab 1909 Verlagsleiter in Leipzig und 1912 Direktor der Druckerei W. Hagelberg in Berlin